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Vom Vergessen

Last updated on 24. April 2021

„Haben Sie manchmal Angst zu vergessen?“ wurde ich neulich gefragt. Sicherlich habe ich Angst zu vergessen. Und nicht nur das. Ich merke, dass ich es auch tatsächlich tue. Vergessen. Ich vergesse. Bilder verblassen. Erinnerungen rutschen irgendwo hin, wo ich sie nicht mehr so schnell abrufen kann. Diese Angst zu vergessen… Gleich nach der Angst, jemanden zu verlieren, den man liebt, kommt die Angst, diesen zu vergessen, sollte er tatsächlich nicht mehr da sein.

Unser Familienalltag ist sehr voll und trubelig. Da bleibt für die Erinnerung nicht so viel Zeit. Und wer nicht ruft, der wird auch nicht gehört. Jona ruft nicht mehr. Und es gibt tatsächlich Momente, da überkommt mich sowas wie ein schlechtes Gewissen, weil kaum Platz für Jona ist. Wir sind so sehr im Hier und im Jetzt. Was warten kann, muss warten. Wer sich nicht aufdrängt, wird auf „gleich“ vertröstet. Ich hab uns noch im Ohr, ihn und mich: „Mama, kannst du mal kommen?“ – „Gleich. Fünf Minuten noch.“

Doch nur ein schlechtes Gewissen allein hat noch nie wirklich geholfen und auch nichts verändert. Es belastet. Und mir bleiben nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich ziehe daraus eine Konsequenz und verändere konkret, oder ich mache meinen Gefühlen klar, dass es okay ist, wie es ist. Dass das auch irgendwie der Lauf der Dinge ist. Und dass wir sie ja eben durch Jona gelernt haben – diese, unsere Art zu leben. Dieses im Hier und Jetzt sein, nicht zu viel an Morgen denken – und nicht zu viel an Gestern.

Klar schauen wir Bilder an und Filme von früher. Aber das ist nicht unbedingt das Gleiche. Es hilft, natürlich. Und es tut gut, Jonas Stimme zu hören, sie mal wieder im Ohr zu haben. Trotzdem ist das etwas anderes, als das, was tief im Herzen ist, und von dem man sich wünscht, dass es immer abrufbar und präsent bleiben würde. Fotos zu betrachten ist etwas anderes, als wenn ich im Alltag einer Situation, einem Menschen oder einer Sache begegne und mich sofort erinnere – mich erinnere, wie Jona dasaß, wie er gesprochen hat, wie er gerochen hat.  

Und ich beschließe, mich nicht zu sehr damit zu plagen, dass ich vergesse, dass es mir manchmal schwerfällt mich zu erinnern. Ich stärke, was mir besonders präsent ist. Ich wiederhole, was Jonas Bild in mir in spezieller Weise aufleuchten lässt. Ich nähre die Töne und Gefühle in mir, die ihn mir besonders lebendig erscheinen lassen. Ich greife ihn ganz normal in meinem Alltag auf, wann auch immer er mir „über den Weg läuft“. Das ist mal mehr, und mal ist es weniger.

Immer wieder mal spiele ich in Gedanken durch, wie das wäre, würde ein Feuer unser Haus zerstören. Dass ich mir wünsche, dass wir unversehrt bleiben, das ist klar. Aber womöglich alles zu verlieren, was mir hilft, mich zu erinnern, alle Fotos, alle Kleider, alle gemalten Bilder… Der Gedanke schafft, dass sich mein Herz zusammenzieht. Dann überlege ich mir, ob ich ein paar Dinge woanders deponieren soll – außer Haus. Aber wer garantiert mir, dass nicht auch die irgendeiner Zerstörung zum Opfer fallen werden?

Wir sind nicht sicher vorm Vergessen, nicht immun dagegen. Darum wird da immer dieser Funke Wehmut sein, diese Traurigkeit, nicht nur weil wir Jona verloren haben, sondern weil dadurch auch im Lauf der Zeit viele Erinnerungen leiser werden, in den Hintergrund rücken, und keine Neuen mehr dazukommen. Aber ich weiß auch, ich werde mich immer erinnern können  – wenn auch nicht mehr ganz klar, wenn auch nur irgendwie. Und seine Spur wird immer bleiben – wenn auch nur in unseren Herzen.

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.