Zum Inhalt springen

Unvergleichbar unvergleichlich

Last updated on 21. Januar 2021

Kevin allein zu Haus ist ein Film, der bei unseren Kindern immer geht – besonders an Weihnachten. Die meisten Lachtränen treibt mir dieses Mal Onkel Frank in die Augen, wie er mit unübertrefflicher Dummheit versucht, Kevins Mutter zu trösten, die im Flugzeug dessen Fehlen bemerkt und verzweifelt meint „Was für eine Mutter bin ich…“ – Doch Onkel Frank kann ihre Gefühle total verstehen – denn „Wenn es dir irgendwie hilft“ meint er trocken, „ich habe meine Lesebrille vergessen…“

Je länger ich lebe, desto mehr muss ich mir eingestehen, dass das Leben einfach unvergleichlich ist. Und zwar nicht so unvergleichlich, wie man das jetzt zuerst verstehen könnte – sondern unvergleichlich im wahrsten Sinne des Wortes. Denn vieles wiederholt sich oder ähnelt sich – und doch ist nichts wie das andere. So ungefähr wie bei eineiigen Zwillingen, die sich so unglaublich ähnlich sind und doch nicht identisch.

Ich denke gerne in Vergleichen, ist das doch oft eine Orientierungshilfe auf dem Weg durchs Leben. Aber je öfter und je länger ich die Vergleiche oder Parallelen, die ich in meinem Leben schon benutzt habe, bewege, desto mehr wird mir bewusst, wie doch vieles hinkt – wie doch vieles zwei Paar Stiefel ist.

Ich weiß noch, wie ich mal die Situation der Kinder auf der KMT verglichen habe, mit Menschen, die Monate unschuldig in Einzelhaft an der Kette verbringen. Tatsächlich liegt ein Vergleich nahe… und trotzdem – das Thema ist ein komplett anderes. Jemand im Gefängnis hat andere Probleme, andere Kämpfe, eine andere Vergangenheit und eine andere Zukunft als ein krebskranker Mensch. Die beiden Situationen auf eine Stufe zu stellen und ernsthaft miteinander zu vergleichen, würde letzten Endes keiner von beiden gerecht werden.

Ich kenne keinen anderen Menschen, der so viele Fehlgeburten hatte, wie meine Freundin. (Mit Sicherheit gibt es noch viele andere da draußen, die ich nicht kenne – oder die vielleicht auch einfach nicht darüber sprechen.) Wir finden viele gemeinsame Gefühle, wenn wir uns über die Trauer unterhalten, die in uns ist. „Was ist nur schief gelaufen?“ – „Hab ich was übersehen, oder hätte ich was anders machen müssen?“

Und trotzdem sind unsere Situationen grundverschieden. Ich habe jahrelang ein Kind begleitet, das den Kampf gegen eine Krankheit verloren hat. Sie hat einen Körper, der ihr immer und immer wieder vermittelt „Mit dir stimmt was nicht! Ungenügend!“ Und zudem – sie hat ja ein Kind, über das sie, in den Augen derer, die nicht verstehen, glücklich sein, und für das sie dankbar sein sollte… Und sie ist dankbar – sowas von… für ihr Kind! Aber auch hier ist man geneigt, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Und man ist versucht, zu vergessen, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Dass auch das zwei Paar Stiefel sind: das Glück und die Dankbarkeit über das Kind, das einem geschenkt wurde – und die Traurigkeit über den Stempel „nicht gut genug“, den der eigene Körper einem immer wieder aufdrückt.

Meine andere Freundin, deren erstes Kind noch als Baby an Krebs verstarb, war nach dem Verkünden ihrer nächsten Schwangerschaft komplett fassungslos, als Menschen ihr gegenüber zum Ausdruck brachten, wie sehr sie sich freuen, dass sie „jetzt ja wieder ein Baby“ hat. Dieser Vergleich war gut gemeint und doch komplett unreflektiert. Kann doch kein Kind das andere ersetzen! Und es muss auch nicht sein (auch wenn es zum Glück ja doch oft so ist) dass nach dem Verlust eines Kindes, weitere Kinder trauernden Eltern gewissermaßen das Leben zurückbringen.

Vergleiche mögen helfen, sich ein grobes Bild zu verschaffen, von einer unbekannten Situation oder von fremden Gefühlen. Und doch können Parallelen und Vergleiche fatal sein – vermitteln sie womöglich die Gewissheit, etwas verstanden zu haben, was man in Wirklichkeit einfach gar nicht verstehen kann. Und so wird kommentiert und analysiert bezüglich einer für die eigene Gefühlswelt völlig unbekannten Situation – statt einfach nur da zu sein.

Denn, wenn die Welt einer Person gerade aus den Fugen ist und das Herz am Boden zerstört, dann braucht es oft nicht viel. Ein gütiges Herz, ein offenes Ohr und eine Schulter zum Anlehnen sind oft so viel mehr wert, als wenn einer, der keine Ahnung hat, versucht mit hinkenden Vergleichen zu verstehen – zu verstehen, was er einfach nicht verstehen kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.