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„Nicht mal, wenn es Krebs heilen würde…“

„Brooklyn Nine-Nine“ ist momentan so unser Kompromiss für einen Abend vor der Leinwand. In der Episode, die gerade läuft, ist eine Gala im Gange. Anzug, Krawatte, Abendkleider, High Heels. Polizisten werden für besondere Verdienste ausgezeichnet. Es wird getanzt. „Nicht mal, wenn es Krebs heilen würde!“ wimmelt die Dame von der Verwaltung den sehr speziellen und offensichtlich auf sie stehenden Polizisten ab, als der sie um einen Tanz bittet.

„Ich würd’s schon…“ sagt eine Stimme neben mir. Ich lege meinen Arm um den kleinen Mann, mit dem ich Schulter an Schulter auf dem Sofa sitze. – „Ach Mäuschen…“ sage ich nur. Denn normalerweise wird alles, was mit Tanzen und Küssen und dergleichen verbunden ist, mit „Iiiii!!! Wääähhh!!!“ kommentiert. Doch das wurde in diesem Kontext ausgeblendet. Alles, was er gehört hat, war „Wenn es Krebs heilen würde…“

Ein Teil von mir fühlt sich ein bisschen stolz: „Wie reflektiert, wie reif…“

Ein anderer Teil von mir wird traurig „Was das Leben nur aus dir gemacht hat, du junge Seele…“

Wieder ein Teil von mir denkt: „Schön wär’s! Aber das ist halt das Leben. Irgendwas geht immer schief. Und wenn es nicht der Krebs ist, dann ist es halt ein Auto oder Corona oder irgendwas anderes.“

Trotzdem weiß ich: Vor dreißig Jahren war Blutkrebs quasi unheilbar. Aber heute können beinahe mehr als dreiviertel aller Kinder, die an einer akuten Leukämie (ALL) erkranken, mehr als fünf Jahre danach krankheitsfrei leben.

Die meisten Erwachsenen, die an Krebs erkranken, leiden an einem Karzinom. Bei Kindern und Jugendlichen sind das andere Zahlen, andere Prognosen und andere Konsequenzen (körperlich, entwicklungstechnisch, sozial…).

Circa dreißig Prozent aller unter achtzehn Jährigen, die an Krebs erkranken, leiden an einer Leukämie, einer bösartigen Erkrankung des blutbildenden Systems. Und immerhin fast vierundzwanzig Prozent leiden an einem Tumor des zentralen Nervensystems (ZNS-Tumor). Jonas Tumor war ein ZNS-Tumor.

Die Prognosen für Tumoren mit einem Sitz im zentralen Nervensystem bei Kindern und Jugendlichen unter achtzehn lesen sich etwas ernüchternder und sind sehr stark abhängig vom Sitz des Tumors und vom Grad der Metastasierung. Aber was alle gemein haben, ist folgende Prognose:  „Darüber hinaus können neurologisch‎e, besonders aber ophthalmologisch‎e, intellektuelle, hormonelle und psychosoziale Defizite zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen.“ (Quelle: www.kinderkrebsstiftung.de) In simplem Deutsch ausgedrückt, heißt das, die meisten dieser Kinder werden für immer gezeichnet sein von ihrer Erkrankung und mit den Folgen leben müssen, selbst wenn sie statistisch gesehen als „geheilt“ verbucht werden.

Eines weiß ich sicher, es wird sie nicht geben, diese Welt ohne Krankheit, Tod und Trauer. Aber all das einfach nur hinzunehmen, in gewisser Weise resignierend, ohne Kampfgeist und ohne diesen Wunsch nach Besserung – das bin auch nicht ich.

Dieses krebskranke Kind mit einem Tumor im zentralen Nervensystem, das hat mein Leben auf den Kopf gestellt, meinen Blick aufs Leben komplett verändert. Mein Leben, das meiner Kinder, das Leben unserer Familie.

Wenn es um die Heilung von Krebs geht, da geht es für uns beinahe um alles. Da sind persönliche Vorlieben egal. Da kaufen wir Weihnachtsgeschenke dort, wo der Erlös der Krebsforschung zugutekommt. Da erzählen wir unsere Geschichte – zehnmal, hundertmal. Da macht unser Herz einen Luftsprung, wenn wir lesen, wie viel Geld durch die ein oder andere Kampagne schwersterarbeitet werden konnte – weil wir wissen, wie viele Forschungsprojekte und -stellen, wie viele Erzieher:innen, wie viele hilfreiche und überlebensnotwendige Aktionen finanziert werden können, durch Summen, die manchem mit Millionen auf dem Konto wie Peanuts erscheinen mögen.

Denn wenn es um die Heilung von Krebs geht, da verkaufen Eltern ihre Häuser, kündigen ihre Arbeitsstelle, verlassen das Land, in dem sie leben. Ich habe Mütter mit muslimischem Hintergrund kennengelernt, die haben sich nach der Therapie ihres Kindes dann verschleiert, weil sie sich von nun an Gott verpflichtet gefühlt haben und ihm gefallen wollten. – Ich kann das total verstehen.

Und wenn es Krebs heilen würde… Ich hätte definitiv mit diesem Kerl getanzt. – Und mein Sohn erst recht.

2 Kommentare

  1. Barbara Barbara

    Liebe Julia, nun sitze ich hier mit Tränen in den Augen. Dabei wollte ich mich gerade in diesen Tagen davor schützen. (Ist jetzt nicht schlimm, das ist beileibe kein Vorwurf jetzt). Schützen kann man sich selten, vor etwas, das weiss ich dich auch. Wenn ich mich vor ALLEM schützen wollte , verpasste ich das Leben.
    Bei dir, in deiner Familie, sieht das völlig anders aus. Ich denke oft an euch. Und… Fühl dich umarmt.
    Liebe Grüße, Barbara

    • Julia Boskovic Julia Boskovic

      Das wollte ich nicht, liebe Barbara… und trotzdem, das hat sich so ergeben, dass die Gedanken rausmussten. Danke für deine Verbundenheit! Eine Umarmung von deiner Julia

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.