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Mit Scherben und Trümmern leben

Last updated on 21. Januar 2021

Die meisten von uns leben, „weil…“. Und werden die Dinge unbequem, erwarten wir, dass so schnell wie möglich vorüberzieht, was auch immer uns zwingt, langsamer zu werden. Dass verschwindet, was Kraft verbraucht, wo wir sie nicht eingeplant haben.

Der größte Teil der Menschen, die ich kenne, hat keinen blassen Schimmer von dem, was es heißt, etwas aufzubauen, was einem quasi schon unter den Fingern wieder „zerbröselt“. Mich eingeschlossen.

Was das für ein Kind bedeutet, immer wieder aufzustehen, zu kämpfen um weiterzuleben – obwohl der eigene Körper und die Welt, in der man lebt, einen am Sinn des Weiterlebens zweifeln lassen – das werd ich selbst nie wirklich verstehen können. Ich bin kein Kind mehr.

Es fühlt sich an wie gestern; aber es ist schon Jahre her, da bin ich in Jonas Zimmer über einen Brief gestolpert. Es war ein kurzer Brief an Gott, in dem er ihn darum bat, einmal einen Engel sehen zu dürfen. Ich hielt diesen Zweizeiler in der Hand. „Junge, du bist der Engel hier…“, dachte ich nur. Und ich ich hab mich an Gespräche erinnert, an Erlebnisse und besondere Situationen.

Seitdem man den Tumor in seinem Kopf entdeckt hatte, war Jonas Leben nie mehr wieder einfach gewesen, Und seitdem war es im wahrsten Sine des Wortes immer schwer für ihn gewesen, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen.

Trotzdem. Er wollte sein Leben. Er wollte dazugehören. Er wollte wissen, wo sein Platz ist. Er wollte Freunde. Er versuchte es mit „cool“ – aber „cool“ stand ihm nicht gut. Er kam nicht an. Er kam seltsam rüber, komisch. Und das war ihm voll bewusst: Seine Schwächen – körperlich, kognitiv, sozial. Und genau das, das ließ ihn oft wütend werden – so unglaublich wütend.

Trotz all seiner Wut und all dem Ärger, hatte ich oft das Gefühl, da war was von einem Engel in ihm. Die Gedanken, die er übers Leben hatte. Mit welchen Augen er die Welt sah. Wie er über den Tod sprach.

Er war eines von den Kindern, die das Gefühl haben, es gibt hier irgendwie keinen Platz für sie – nirgendwie, nirgendwo. Er war einer von den Seltsamen, von den Sonderlingen. – Aber genau die, die brauchen wir hier! Für die müssen wir Platz schaffen. Für die müssen wir uns Zeit nehmen.

Weil das die sind, von denen wir eine für uns wichtige Lektion lernen können. Die Lektion, wie man lebt, „obwohl…“. Die Lektion, wie man mit Scherben und Trümmern lebt.

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.