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Geschichten mit sich herumtragen

Last updated on 21. Januar 2021

Immer wenn ich an jemandem vorbeilaufe, der „nicht normal“ ist, fühle ich einen Stich in meinem Herzen. Das ist völlig egal, ob das ein Mensch mit einer Behinderung ist, oder jemand, den Krankheit gezeichnet hat. Es spielt keine Rolle, ob das jemand obdachloses ist, oder jemand, der irgendwie im Kopf oder in der Seele krank ist… Es sticht. Tief in mir tut es weh.

Es tut weh, weil ich an Jona denke. Ich denke immer, was wäre aus ihm noch geworden, mit all dem, was er mit sich rumgeschleppt und was ihn geprägt hat. Ich spüre Mitleid mit den Menschen, wünsche mir eine Welt, in der mehr Verständnis für sie da ist, mehr Rücksichtnahme, mehr Wertschätzung.

Es tut weh, weil ich auch manchmal froh bin, dass ich mir keine Sorgen mehr um Jona machen muss. Denn das hätte ich mir sicher gemacht – viele Sorgen. Und das hätte ich sicher gehabt – viel Angst um ihn.

Neulich mal hatte ich ein Gespräch mit einem Menschen, der zu Jonas Lebzeiten flüchtig mit ihm zu tun gehabt hatte. Wir erkannten uns wieder, und es kam natürlich die Frage nach Jona, und wie es ihm gehe. Auf mein „Jona ist leider gestorben.“ kam ein unüberlegtes, gut gemeintes „Ach ja, dann ist er erlöst, nicht wahr?“ Ich war etwas vor den Kopf gestoßen, nickte ab, mit einem sehr zaghaften „Ja.“ und entfernte mich so schnell wie möglich aus dem Gespräch, Denn in dieser Umgebung konnte ich nicht die Fassung verlieren und in Tränen ausbrechen…

Ja! Natürlich denke ich irgendwie, dass Jona erlöst ist… Besonders in Zusammenhang mit der Angst vor Jonas Zukunft – die ich definitiv hatte und auch immer gehabt hätte. Aber mitunter auch deswegen, weil ich wusste, in unserer Gesellschaft sieht man lieber manchmal, dass Menschen, die „Umstände machen“ oder mehr Zeit brauchen, Menschen, die unserem Tempo und unserer Gesamtleistung irgendwie im Weg stehen – dass diese Menschen „erlöst“ sind, als dass man wirklich beginnt unser seltsam krankes Wertesystem zu hinterfragen und zu sanieren.

Und genau das, wie unsere Welt funktioniert, wie die Menschen ticken, das hat Jona gewusst. Und ich weiß noch, wie er nach der Nachricht „Die Therapie hat angeschlagen! Das MRT zeigt momentan keine Kontrastmittelaufnahme (d.h. kein Tumor sichtbar).“ zu weinen anfing und sich gar nicht richtig freuen konnte,

Und genau diese Zeilen schrieb ich, nachdem wir besprochen hatten, dass nirgendwo geschrieben steht, dass man sich über eine solche, in meinen Augen positive, Nachricht freuen muss:

„Die Leute um uns meinen ‚Mann, was für ein Glück!‘, ‚Wie groß Gott ist…‘ Und ich denk mir ‚Das hier – damit hat keiner gerechnet. Für euch ist der, unser Kerl, einfach immer noch bei uns. Für uns aber war er weg – und wir haben ihn wieder zurückbekommen.‘ Seine Beerdigung hab ich im Kopf schon mehrere Male durchgeplant… Um ihn herum sind Kinder gestorben. Doch es scheint, als sollte er noch bleiben – etwas länger. Drum hoff ich, die Menschen sind behutsam mit ihm – gut, geduldig, fair. Er ist zurück – das passiert nicht oft. Vielleicht denkst du an ihn, wann auch immer du ein Kind triffst, das ‚eine Geschichte mit sich herumträgt’… Schenk ihm deine Zeit, deine Nerven, deine Geduld, deine Liebe. Bereuen wirst du das nicht. Und dieses Kind, es wird dir sein Leben lang dankbar sein.“

Foto: Caroline Rosenau – Liquid Filmproduktion https://liquidfilmproduktion.de/

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.