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Schneematsch

Ins Auto steige ich heute nicht mehr… Lieber stapfe ich mit bis zum Knie verspritzen Beinen durch den Schneematsch. Wir sind etwas spät dran und versuchen trotz unseres schnellen Schrittes nicht auszurutschen.

„Viel Spaß! Lauf vorsichtig nachher!“ rufe ich meinem Sohn noch zu, bevor er mit seiner Gitarre auf dem Rücken in der Musikschule verschwindet. Den Rückweg macht er alleine. Er hat noch etwas Geld dabei für einen Zwischenstopp beim Drogeriemarkt.

Ich bin etwas in Eile und laufe zügig. Doch jeder Schritt will mit Bedacht gesetzt sein. Es ist wirklich außerordentlich glitschig auf den Gehsteigen. Mit der Zunge lecke ich mir eine dicke Flocke von der Lippe. Der Schnee, ein nasskalter Vorhang, der einem beständig ins Gesicht weht. Man kann kaum aus den Augen schauen.

Angenehm warm und trocken ist es, als ich in den Laden komme. Um ein Haar hätte mich meine Freundin nicht erkannt, trage ich doch einen dicken Mantel, Mütze und eine Maske über Mund und Nase. Na, zum Glück weiß sie noch, wie meine Stimme klingt und erkennt mich dann doch, als ich ihr zurufe.

„Entschuldigung, können Sie mir helfen?“ spricht mich eine fremde Frau an, als ich, den Rucksack voll, wieder in die Kälte trete. „Ähh, ja…“ Was sie wohl will? Schon streckt sie mir ihren Schirm entgegen. „Könnten Sie mir den mal halten? – Und die Handtasche vielleicht auch?“ Ich bin etwas verdutzt und denke mir, okay… was das wohl werden soll? Unter ihrem anderen Arm klemmt noch ein Päckchen. Sie kramt eine Maske aus ihrer Jackentasche hervor. „Ich kann mir die nicht aufziehen mit all den Sachen in der Hand und wenn ich abstelle, ist alles voll Matsch…“ Wir müssen beide lachen, und ich nehme ihr auch noch das Paket ab.

Zweihundert Meter weiter muss ich immer noch in mich hineingrinsen. Was für ein Tag! Die Welt versinkt im Schneematsch, keiner hat Bock auf Corona und Maske. Doch wäre das alles nicht, hätten nicht gerade ein wildfremder Mensch und ich einen Moment gehabt. Einen Moment der Zwischenmenschlichkeit. Einen Moment des Vertrauens (denn, hey, wer gibt denn einfach mal so seine Handtasche aus der Hand). Einen Moment der Heiterkeit.

Während ich weiterlaufe, kreisen meine Gedanken um all die Begegnungen, die doch möglich sind, nur weil ein Mensch beschließt, dass nicht im Matsch liegen soll, was er dabeihat. Dass zu wertvoll ist, was er mit sich herumträgt, zu kostbar. Ich denke an all die Momente, die entstehen, wenn einer sagt: „Kannst du mir mal kurz helfen?“ „Kannst du mich mal stützen?“ „Darf ich dir was anvertrauen?“

Und ich bin froh, dass es diese Momente gibt. Vor dem Laden. Daheim. Bei der Arbeit. Hier im Netz. In der Familie. Weil sie mir zeigen, dass wir einander brauchen. Und sind die Gründe noch so banal. Wir können nicht alleine. Und das ist auch gut so. Weil es am Ende nie einfach nur um die Hilfe geht oder um brauchen und gebraucht werden.

Nein, am Ende steht die Begegnung, steht ein Mensch – steht die Einzigartigkeit eines jeden Moments.

2 Kommentare

  1. Liebe Julia, genau so. Siehe vDr. Daniele Ganser: wir sind eine Menschheitsfamilie. Wir sollten… Und können es auch…. Nicht in Spaltung denken, sondern in füreinander da sein und miteinander leben. Friedlich, liebevoll, verständnisvoll.

    • Julia Boskovic Julia Boskovic

      <3 Danke für die liebevolle Ergänzung.

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.