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Auf deiner Seite – An deiner Seite

Last updated on 21. Januar 2021

„Du bist ja sowieso auf Samias Seite, ihr seid ja befreundet…“ bekam ich vor einer Weile mal in einem Gespräch mit einem Erwachsenen zu hören. – „Ich bin auf gar keiner Seite! Ich finde nur dein Verhalten absolut nicht korrekt. Das hat nichts mit Seiten zu tun…“ Ich wollte noch irgendwas von wegen „nicht im Kindergarten“ anhängen, verwarf den Gedanken dann aber, um des lieben Friedens willen.  

Unser Sohn kam überglücklich von der Schule nach Hause – letzter Schultag vor den Weihnachtsferien geschafft! Endlich Ferien!  Endlich? Ähhh… plötzlich! Wie dem auch sei… Dass ich seine Begeisterung nicht zu hundert Prozent geteilt hab, tat seiner Freude keinen Abbruch. „Ich bin so glücklich…“ – „Man merkt’s!“ meinte sein Bruder „sonst bist du nie so freigiebig mit den Süßis aus Wichtelgeschenken.“

Doch bevor er von Wichtelgeschenken erzählt und sich selbst als so glücklich bezeichnet, müssen erst ein paar Dinge raus. Noch nicht ganz zur Tür herein, berichtet er mir von Jungs, die ihn in der Pause vor die Wahl gestellt haben. „Bist du auf Matteos Seite oder auf unserer?“ Er habe mit „Häää? Was wollt ihr? Er hat doch recht gehabt…“ geantwortet, nur um dann nachher noch ein provokantes Kommentar einzustecken. Er war recht unbeeindruckt. Er mag Matteo. Aber er mag eigentlich auch die anderen.

Erst kürzlich hat er mir erzählt, dass er bemitleidet wurde „Oh du Armer, jetzt musst du neben Miguel sitzen…“. – „Mama, ich hab gesagt: Ich weiß nicht was ihr habt? Der ist doch voll nett…“ Und ich frage mich, warum nur vertuschen wir unsere Schwächen und unser Fehlverhalten, indem wir uns auf eine Seite schlagen.

Muss ich, um Freund zu sein, immer auf jemandes Seite sein? Warum reicht es nicht einfach an jemandes Seite zu sein? Muss ich immer gut finden, was jemand tut, den ich mag? Darf ich nicht für jemanden da sein, nur weil er etwas getan hat, das nicht zu hundert Prozent korrekt ist? Warum machen wir Loyalität an dem fest, wie sich jemand verhält? Warum um alles in der Welt denken wir immer in Seiten?

Warum wollen wir auf Fehlern rumhacken, am liebsten jemandes Identität durch den Begriff eines Fehlverhaltens ersetzen. „Manchmal verstehe ich nicht“ sage ich meinem Sohn „warum die nicht sehen, dass sie alle gute und schlechte Seiten haben, und warum man nicht einander hilft, dass jeder seine guten Seiten zeigen kann… Warum hat jemand Spaß daran zuzusehen, wie jemandes schlechte Seite zum Vorschein kommt?“ – Vielleicht weil er Angst hat, dass sonst seine eigenen Schwächen sichtbar werden, und er dann nicht dazu stehen kann?  

Mir kommt das alles ein bisschen vor wie ein Déjà-vu. Gab es auch zu bestimmten Zeiten in Jonas Leben Menschen, die ihm einfach keine Chance mehr geben wollten. Er war abgestempelt. Schublade auf, Jona rein, Schublade zu, Label dran. Bösewicht. Schläger. Respektlos. Hat es interessiert, warum? – Nicht wirklich.

Hätten wir nicht den Stöpsel gezogen, Zeit und Kraft investiert, wer weiß… Und hätten wir nicht Hilfe gesucht, Dinge verändert, wer weiß… Und wären da nicht dann doch Menschen gewesen, die zwar nicht immer auf seiner Seite, aber wirklich immer an seiner Seite waren – wer weiß…

Ich mag Schubladen nicht. Naja, daheim schon – da mag ich sie sehr. Aber nicht in unserer Gesellschaft. Und Seiten? – Die mag ich schon… in Büchern und auch beim Spazierengehen. Doch Seiten sind absolut sinnlos, wenn es darum geht herabzuwerten und auszugrenzen.

Und trotzdem sind Seiten wichtig… wichtig um bei jemandem zu sein. Wichtig um zu zeigen, dass der eine für den anderen da ist.

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.